Eros und Todestrieb, Geld und Besitz, soziale Beschleunigung und neue Job-Anforderungen, Neugierde und Wissensdurst, Klimawandel und Krieg, Anerkennung und Ansehen. Viele Antworten, und immer die eine Frage: Was treibt den Menschen an?
Von Andreas Aichinger
Hitler in der Verbannung auf der entlegenen Insel St. Helena? Geradezu bizarr klingt heute, was 1943 noch ein ernst gemeinter Vorschlag gewesen war. Die Verheißung eines Alterssitzes auf den Spuren Napoleons sollte Hitler – so die damalige Überlegung des US-amerikanischen „Office of Strategic Services“ – davon abhalten, Selbstmord zu begehen. Tatsächlich hatte es zwei Jahre vor Kriegsende ein Psychogramm für wahrscheinlich befunden, dass sich der „Führer“ möglichst dramatisch das Leben nehmen und sich so seiner Verantwortung entziehen könnte. Und damit Recht behalten. Nicht zuletzt eine Frage hatte der prominente Harvard-Psychologe in seiner Persönlichkeitsanalyse aufgeworfen: Was treibt Hitler an? Der Name des Profiling-Pioniers jener Tage ist indes auch heute noch von Interesse: Henry Murray.
20 Bedürfnisse Schon vor dem Krieg hatte Murray eine Persönlichkeitstheorie entwickelt, die neben den primären Bedürfnissen des Menschen wie Hunger und Durst auch so genannte sekundäre Bedürfnisse formulierte. Insgesamt 20 sind es an der Zahl, darunter etwa Machtausübung und Selbstdarstellung, Unabhängigkeit, Verstehen, Misserfolgs- und Leidvermeidung, sozialer Anschluss, Leistung und Ordnung, aber auch Spieltrieb und Sexualität. Diese „sekundären Bedürfnisse nach Murray“ stellen somit eine ebenso umfassende wie der Allgemeinheit eher unbekannte Matrix dar, um menschlichen Motiven auf den Grund zu gehen. Dazu Erich Kirchler, Wirtschaftspsychologe und Vizedekan der Fakultät für Psychologie der Universität Wien: „Die Motive, die Menschen antreiben – und damit zu Verhaltenszielen werden – sind vielfältig.“ In der Wirtschaftspsychologie wären vor allem die Inhaltstheorien von Interesse. O-Ton Kirchler:
Eros oder Euros? „Der Bogen spannt sich von Abraham Maslow über Sigmund Freud und seine zwei Motive Libido und Destrudo bis hin zu Henry Murray und seine 20 sekundären Bedürfnisse. Dabei geht es natürlich um Monetäres und Materielles, aber ebenso um Sinnhaftigkeit, Ästhetik und Glauben.“ Während das Freud’sche Gegensatzpaar aus Lebenstrieb (Eros) und Todestrieb (Thanatos) samt den zugehörigen Energien „Libido“ und „Destrudo“ einen doch sehr grundsätzlichen Ansatz liefert, hat Wirtschaftspsychologe Kirchler doch auch einen deutlich konkreteren „Antrieb“ im Blick: Geld. „Wenn wir von wirtschaftlichen Überlegungen ausgehen, spielt Geld eine wesentliche Rolle. Und zwar als Maßeinheit dafür, was jemand präferiert oder eben nicht“, so Erich Kirchler. Der monetäre Anreiz sei somit die „Währungseinheit“, um Verhaltensziele „greifbar“ zu machen, so der Wirtschaftspsychologe. Logische Konsequenz: „Selbstverständlich treibt uns materieller Besitz und damit letztendlich auch Geld an.“
Soziale Beschleunigung Geld wiederum ist für viele ZeitgenossInnen untrennbar mit einem guten Job verbunden. Einer der sich wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigt, ist der Arbeits- und Organisationspsychologe Christian Korunka. Seine Einschätzung: „Wir leben ganz grundsätzlich in einer beschleunigten Welt. Die Theorie der sozialen Beschleunigung des Soziologen Hartmut Rosa beschreibt das sehr gut.“ Korunka macht die beschleunigte Job-Welt an Kennwerten wie kürzeren Produktzyklen, abnehmenden Bindungen an Unternehmen oder verringerter Zeit für konzentrierte Arbeit fest. Das Paradebeispiel dazu: „Ein Brief in die USA samt Antwort hat einmal ein paar Monate gebraucht, heute braucht ein Email eine Zehntelsekunde. Und die Antwort wird sofort erwartet.“ Die veränderten Anforderungen in der Arbeitswelt, die Menschen immer mehr antreiben würden, könne man dabei unter drei Aspekten zusammenfassen. Korunka: „Der erste Bereich ist Arbeitsintensivierung. Die Arbeit wird intensiver erlebt, wir müssen alle signifikant mehr pro Zeiteinheit machen.“ Dazu kämen noch potentiell überfordernde Autonomie- sowie immer höhere Kompetenzanforderungen. Die Folge: „Wir müssen sowohl auf der Wissensebene als auch auf der Ebene der Fähigkeiten einfach mehr lernen.“
Neugierde & Entwicklung Zwar gäbe es angesichts der wachsenden Anforderungen „sowohl individuell als auch gesellschaftlich gewisse Adaptionsmöglichkeiten“, doch nur innerhalb bestimmter Grenzen. Der Arbeitspsychologe: „Die Menschen müssen sich darauf einstellen, dass es diese klassischen 9-to-5 Lebensjobs nicht mehr gibt, sondern dass eine zerstückelte Berufsbiografie immer häufiger werden wird.“ Bleibt die Frage: Was treibt eigentlich einen Wissenschaftler wie Korunka, der am Postgraduate Center das „Psychotherapeutische Propädeutikum“ leitet, an? Der Wissenschaftler: „Antreiben, das ist psychologisch gedacht letztlich Motivation. Wir werden durch Grundbedürfnisse positiv motiviert, die erfüllt werden wollen. Da gibt es ein Bedürfnis nach Anerkennung und Feedback, eines nach Kompetenzentwicklung, nach Autonomie und ein Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit.“ Gute Jobs wie der des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin würden diese Bedürfnisse erfüllen. Vor allem aber: „Wir haben ein Grundbedürfnis nach Neugierde, nach Weiterentwicklung.“
Altes & neues Wissen Judith Maria Rollinger ist als Pharmakognostin (Pharmakognosie ist die Lehre von biogenen Arzneimitteln und Giften) in einer völlig anderen Disziplin tätig. Und teilt dennoch die Sicht des Psychologen. Rollinger: „Es sind viele Dinge, die mich antreiben. Zuerst sicherlich die Neugierde und die Freude, mit Naturstoffen zu arbeiten. Ich bin von jedem neuen Naturstoff, den wir isolieren, identifizieren und dessen Struktur wir klären können, fasziniert.“ Besonders spannend sei dabei der Brückenschlag zwischen altem und neuem Wissen. Rollinger: „Die Menschheit hat seit Jahrtausenden empirisches Wissen angesammelt.“ Zwar könnte die Volksmedizin „nicht alle offenen Fragen lösen“, so die Wissenschaftlerin. Aber: „Wir können es uns als moderne Naturstoffforscher nicht leisten, diesen Erfahrungsschatz einfach links liegen zu lassen.“ Besonderes Interesse gilt dabei Leitstrukturen aus der Natur, die bereits wesentliche Eigenschaften späterer Wirkstoffe aufweisen. Im Rahmen einer Influenza-Forschungsgruppe hätte man bereits aussichtsreiche antivirale Kandidaten identifizieren können, freut sich Rollinger. Und sie betont die unbedingte Notwendigkeit lebenslangen Lernens: „Der Erkenntnisstand ändert sich tagtäglich und gerade in unserem Fach gilt es, am Ball zu bleiben. Das macht das Ganze enorm spannend und nie langweilig.“
Menschenrecht & Klimaflucht Bewegt man sich auf der Bedürfnispyramide weiter Richtung Basis, so treten auch aktuelle Fragen in den Vordergrund. Etwa: Was treibt Menschen an, die ihre Heimat verlassen? Flucht und Migration können in Kriegen oder Verfolgung ebenso ihre Ursachen haben wie in ökonomischen Rahmenbedingungen. ExpertInnen glauben aber, dass in Zukunft auch noch ein zusätzliches Phänomen immer mehr Menschen über den Globus „treiben“ könnte: der Klimawandel. „Der Klimawandel ist für mich eines der besten Beispiele für die globale Ungerechtigkeit“, bestätigt Manfred Nowak. Der Professor für Internationales Recht und Menschenrechte der Uni Wien und ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Folter nennt die Dinge beim Namen: Während die Verursacher „im Wesentlichen die reichen Industriestaaten des Nordens“ wären, hätten vor allem die Menschen im globalen Süden unter den Veränderungen des Klimas zu leiden. Nowak warnt schon jetzt: „Der Klimawandel führt zu einer Climate Induced Migration.“ Gerade in Zeiten krisenhafter Entwicklungen könne man sich indes stets auf das „normative Framework“ der Menschenrechte berufen. Nowak: „Die Menschenrechte sind eine der wichtigsten Errungenschaften der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie sind eigentlich die Hauptantwort, die die internationale Gemeinschaft auf den Holocaust gefunden hat.“
Ansehen & Anerkennung „Menschliches Handeln ist nicht bloß triebgesteuertes Agieren und Reagieren wie bei Tieren, sondern der Mensch kann sich selbst betrachten“, gibt schließlich Otmar Weiß zu bedenken. Der Sportsoziologe (Weiß leitet den Universitätslehrgang „Psychomotorik“ im Postgraduate Center) lenkt damit die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst: „Dieses Selbstbewusstsein braucht stets die sozial vermittelte Bestätigung in Form von Ansehen oder Status. Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung.“ Durch verschiedenste Verhaltensweisen – zusehends auch durch sportliche Leistungen – würden Menschen daher versuchen, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Das sei schon bei Kleinkindern zu beobachten, die sich mit einem Lächeln um die „Anerkennung“ der Mutter bemühen würden. Weiß abschließend: „Um sein Selbstbewusstsein zu festigen und eine Identität zu finden, ist der Mensch bemüht, soziale Bestätigung zu erfahren. Das treibt ihn, das treibt uns an.“Zur Bearbeitung hier klicken. (Coverstory im Magazin COMPETENCE 2016, Uni Wien, Postgraduate Center)