Gene sind doch
kein unabänderliches Schicksal. Sie lassen sich beeinflussen, sogar ein- und
ausschalten. Aber was bedeutet das für die Entstehung von Krebs und anderen
Krankheiten? Sind Reaktionen auf Umwelteinflüsse vererbbar? Beeinflusst am Ende
sogar die Kindheit der Großeltern die Gesundheit ihrer späteren Enkel? (Maxima 2010)
Was haben
Bienenköniginnen, eineiige Zwillinge und nordschwedische Bauernkinder
gemeinsam? Nun – mehr als es den Anschein hat. Und die Erkenntnisse aus diesen
Gemeinsamkeiten könnten auch Ihr Leben verändern. Aber der Reihe nach: Dass im
Stock eines Honigbienen-Volkes zwei „Klassen“ von Weibchen leben, ist eine
Binsenweisheit. Auch wodurch einige wenige Insekten-Damen zu herausragenden,
fruchtbaren Königinnen werden, die große Mehrheit aber zu schnöden,
unfruchtbaren Arbeiterinnen, hat sich schon herumgesprochen: Während die
angehenden Royals mit Gelée Royal (Königinfuttersaft) verwöhnt werden, müssen
die übrigen Larven schon bald mit einem Mischmasch aus Pollen und Honig vorlieb
nehmen. Doch kann allein die Ernährung dafür verantwortlich sein, dass sich
Bienen-Schwestern am Ende so grundlegend unterscheiden wie eben Königinnen und
Arbeiterinnen? Frage Nummer zwei hingegen hat noch viel dramatischere
Konsequenzen – und entscheidet oft sogar über Leben und Tod: Wieso erkrankt ein
Zwilling an Krebs, während sich der andere bester Gesundheit erfreut? Und das,
wo doch eineiige Zwillinge nahezu identische Gene haben?
Geheimnisvolles
Erbe
Wir schreiben das
Jahr 1821. Överkalix, ein kleines Dorf hoch oben im Norden Schwedens, wird von
einer schlimmen Missernte heimgesucht. Zu den eisigen Temperaturen im folgenden
Winter und den wenigen Tageslicht-Stunden kommt noch ein weiteres Problem: Die
Gegend ist so abgelegen, dass die Menschen ihre Vorräte nicht durch Handel
aufstocken können. Die unabwendbare Folge: Die Bewohner von Överkalix müssen
hungern und können nichts dagegen tun. Doch bereits im Jahr danach ist alles
anders, 1822 wird eine besonders fette Ernte eingefahren. Da ist es nur allzu
menschlich, dass nicht gespart und statt dessen geschlemmert wird, dass sich
die Tische biegen. Spannend: Dank umfangreicher Aufzeichnungen lässt sich noch
heute die rasche Abfolge von guten und schlechten Ernten im 19. Jahrhundert in
der entsprechenden Provinz nachweisen. Doch hier wird es erst richtig
aufregend: Durch Zufall macht der schwedische Wissenschaftler Lars Olov Bygren,
der auch die Daten der folgenden Jahrzehnte genau studiert, eine sensationelle
Entdeckung: Männer, deren Großväter im Alter von etwa zehn Jahren eine der
Hungersnöte durchlitten hatten, lebten deutlich länger als die Enkel von
Överkalix-Bewohnern, die in der Vor-Pubertät gevöllert hatten! Und wie bei den
Bienenköniginnen und den eineiigen Zwillingen bleibt auch hier nur die Frage:
Warum?
Gene sind kein
Schicksal
Es ist eine
regelrechte wissenschaftliche Revolution, die in den letzten Jahren immer
konkretere Formen angenommen hat. Weitgehend unbemerkt von der breiten
Öffentlichkeit hat ein Spezialgebiet der Biologie rasant an Bedeutung gewonnen,
das unsere Sicht des Lebens gewaltig auf den Kopf stellen wird: die Epigenetik.
Der Begriff – die griechische Vorsilbe epi steht für über oder zusätzlich
– beschäftigt sich mit Phänomenen, die durch die klassische Sicht auf Gene
nicht oder nicht ausreichend erklärt werden können. Und räumt dabei mit zum
Teil dramatischen Missverständnissen auf. Ein Beispiel: In der Vergangenheit
herrschte die Vorstellung vor, dass ererbte Gene so etwas wie ein
unausweichliches Schicksal darstellen. Wer also beispielsweise das Gen für
blaue Augen hat, bekommt eben blaue Augen. Wer genetisch auf Sucht programmiert
ist, wird eben auch tatsächlich süchtig. Und wer ein Krebs-Gen in sich trägt,
wird auch tatsächlich über kurz oder lang an Krebs erkranken. Aber Fehlanzeige.
All das stimmt so nicht, wie die Forschungsergebnisse der Epigenetiker zeigen.
Einfach gesagt: Auch wenn bestimmte Gene in unserer DNA (Desoxyribonukleinsäure,
Träger der Erbinformation) enthalten sind, heißt das noch lange nicht, dass sie
sich auch wirklich auswirken. Denn was sich noch kaum herumgesprochen hat: Gene
können durch biologische Schalter ein- oder eben auch ausgeschaltet werden. So
macht etwa ein ausgeschaltetes Krebs-Gen naturgemäß (noch) keine Probleme. Ein
Krebs-Unterdrückungs-Gen hingegen sollte im Idealfall natürlich aktiv sein.
Mehr noch: Wie beim Lautstärke-Regler eines Radios können einzelne Gene lauter
oder eben leiser geschaltet werden. Sprich: Epigenetische Mechanismen sorgen
dafür, dass diese Gene stärker oder eben schwächer zum Tragen kommen und den
Organismus stärker oder eben schwächer beeinflussen. Die fast schon
sensationelle Konsequenz für unser Leben: Gene sind kein unabänderbares
Schicksal.
Gen ein, Gen
aus
Bleibt die
entscheidende Frage: Wer oder was betätigt eigentlich die Schalter unserer
Gene? Und noch aufregender: Können wir das vielleicht sogar selbst tun, um
gesund zu bleiben oder zu werden? Relativ klar ist heute, wie diese
Gen-Schalter aussehen. Der wichtigste davon sind so genannte Methylgruppen,
bestehend aus einem Kohlenstoff- und drei Wasserstoff-Atomen. Lagert sich nun
diese „Viererbande“ an die DNA beziehungsweise den Eiweiß-Träger der DNA, so
können einzelne Gene auch schon geschaltet werden. Das Ganze heißt dann
„Methylierung“ und ist ein Begriff, der in Zukunft wohl noch oft zu hören sein
wird. Und er beschreibt einen Vorgang, der auch das Schicksal der Honigbienen
besiegelt: Ausgerechnet der eingangs erwähnte Honig-Pollen-Brei führt nämlich
zu solchen Methylierungen in der Gen-Substanz der Arbeiterinnen. Die Folge:
Einige für die Entwicklung zur Königin wichtige Gene werden einfach
ausgeschaltet, wie australische Forscher erst vor kurzem herausgefunden haben.
Sprich: Die im Vergleich zum Gelée Royal schlechtere Ernährung ist
hauptverantwortlich dafür, dass Arbeiterinnen klein bleiben, dramatisch kürzer
leben und sich nicht fortpflanzen können. Und wir halten den Atem an: Ist es
denkbar, dass derartige Effekte auch beim Menschen eine Rolle spielen? Führen
unser Lebensstil, unsere Ernährung, ja vielleicht sogar unsere Erlebnisse zu
solchen Schaltvorgängen in unseren Genen?
Kleine
Kriegs-Kinder
An dieser Stelle
lohnt sich ein zweiter, genauerer Blick auf die erstaunlichen Zusammenhänge,
denen die Forscher am Beispiel der Menschen von Överkalix auf die Spur gekommen
sind. „Man ist, was man isst“, sagt der Volksmund. Aber wer hätte gedacht, dass
hinter dieser Weisheit noch viel mehr stecken könnte? Frei nach dem Motto: Du
bist sogar das, was Oma und Opa gegessen haben. Speziell Papas Eltern sind
nämlich offensichtlich von besonderer Bedeutung. Hatte der Großvater
väterlicherseits – wie beschrieben – in der Vorpubertät wenig zu essen, so
führen deutlich niedrigere Raten von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
im Schnitt zu vielen zusätzlichen Lebensjahren bei den schwedischen Enkeln.
Allerdings nur bei männlichen Enkelkindern, und auch nur im Falle des väterlichen
Großvaters. Bei Frauen hingegen waren die ersten Lebensjahre der Oma
väterlicherseits entscheidend: War sie als kleines Mädchen deutlich
überernährt, so stellte sich das später als nachteilig für die Enkelinnen
heraus. Bei den Müttern hingegen folgt der Einfluss der Ernährung eher den
erwartbaren Mustern, wie das berühmte Beispiel holländischer Kriegsmütter
zeigt: Frauen, die während oder nach dem Zweiten
Weltkrieg an Hunger litten, bekamen nicht nur kleinere Kinder – was an sich
noch nicht überraschend wäre – sondern auch kleinere Enkelkinder. Die
Hunger-Botschaft wurde also offenbar irgendwie über alle Generationen-Grenzen
hinweg in die Zukunft transportiert.
Du bist, was
Mama isst
Die wahrscheinlichste Erklärung
für diese geradezu mysteriös anmutenden Vorgänge: Epigenetische Veränderungen
wirken direkt auf Spermien beziehungsweise Eizellen und werden so direkt
weitergegeben. Und auch dass das kritische Alter bei Oma und Opa so
unterschiedlich ist, lässt sich leicht erklären: Während Eizellen schon bei
ganz jungen Mädchen heranreifen, wird es für Spermien erst in der Vorpubertät
ernst. Doch während Mädchen heute während der kritischen Phase –
Schwangerschaft und erste Lebensjahre – im allgemeinen gewissenhaft und gesund
ernährt werden, sieht es bei den Buben im Vorfeld der Pubertät deutlich düsterer
aus. Übergewicht – und immer öfter auch erste Erfahrungen mit Zigaretten und
Alkohol – sind eine ernsthafte Bedrohung. Und zwar für das Leben der angehenden
Männer ebenso wie für das ihrer Nachkommen! Doch auch diese Medaille hat eine
positive Kehrseite: Im Tierexperiment mit weiblichen Mäuse-Mamas konnte gezeigt
werden, dass diese trotz eines schwerwiegenden Gen-Defektes gesunde Jungen
bekommen, sofern sie überdurchschnittlich hochwertig (Vitamin B12, Folsäure)
ernährt werden. Frei nach der Devise, die auch Menschen-Mamas nachdenklich
stimmen könnte: Du bist, was Mama isst.
Kabinett des
Schreckens
Was aber, wenn
Mama und Papa auch noch rauchen oder wenigstens in den heiklen Jahren geraucht,
deutlich über den Durst getrunken oder Schreckliches erlebt haben? Alles nicht
wirklich gut. Wie jedes Kind weiß, schädigt Rauchen den Organismus auf
vielfältige und direkte Weise. Aber eben offensichtlich auch über epigenetische
Schalter. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Väter, die bereits vor dem
zwölften Lebensjahr kräftig zum Glimmstängel gegriffen haben, auffällig oft
dicke Söhne in die Welt setzen. Der Umweltmediziner Frank Gilliland von
der Keck-Medizinuniversität in Kalifornien erkannte schon vor einigen Jahren
das noch immer unterschätzte Gefahrenpotential. Gilliland: „Die
Forschungsergebnisse legen nahe, dass Rauchen längerfristigere Auswirkungen auf
die Gesundheit von Familien haben könnte, als wir uns je vorgestellt haben.“
Und auch Komatrinker haben
hervorragende Chancen, diverse Gen-Schalter zum Negativen zu betätigen. Im
richtigen (oder eigentlich falschen) Alter reißen sie auch gleich ihre Enkel,
die vielleicht erst 40 Jahre später geboren werden, mit in den Abgrund. Doch
damit nicht genug: Erlebte Traumata, Folter oder einfach nur massiver Stress
können sich über epigenetische Mechanismen auch noch lange nach den
entsprechenden Ereignissen auf die Betroffenen auswirken, wie Untersuchungen
nahe legen. Mit anderen Worten: Viel deutet darauf hin, dass Umwelteinflüsse
wenigstens zum Teil vererbt (siehe Info Box!) werden können. Wirken sich Lebensstil und Umweltfaktoren also auf die
genannten Gen-Schalter und somit auf die Gesundheit von Frauen – und ihren
Nachkommen – aus? Eva Jablonka, die wahrscheinlich bekannteste
Epigenetik-Expertin der Welt, hat eine eindeutige Botschaft für Maxima-Leserinnen:
„Aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse gibt es wenig Zweifel daran,
dass es Auswirkungen auf Kinder und Kindeskinder gibt.“
Blauäugige
Klon-Krieger
Neben vielen
durchaus greifbaren Erkenntnissen macht die Epigenetik vorerst aber auch
Schluss mit vielen Horror- und Science-Fiction-Szenarien. Endlich weiß man,
wieso geklonte Tiere entweder vorzeitig gealtert und krank (Klonschaf „Dolly“)
waren oder aber ganz anders als das Original aussahen (Klonkatze „Copy Cat“).
Die Gesamtheit aus Genen und ihren Schaltern ist eben offensichtlich doch viel
komplizierter beschaffen als bis vor kurzem angenommen. Und sie lässt sich
gottlob nicht ohne weiteres vervielfältigen, um Klon-Krieger oder blauäugige
Wunschkinder zu erzeugen. Sündteure und zweifelhafte Gentests zur Vorhersage
von Krankheiten verlieren an Aussagekraft, die Rede von den „guten Genen“
relativiert sich. Talent, Begabungen, Intelligenz- und sonstige -Quotienten
lassen sich noch weniger ausschließlich mit der ererbten DNA erklären als
bisher. Gleichzeitig taugen die nun einmal ererbten Gene weder als Ausrede noch
als Ruhekissen. Sprich: Wir sind offensichtlich viel mehr „unseres Glückes
Schmied“, als wir in den letzten Jahrzehnten gedacht haben. Der US-Amerikaner
Randy Jirtle, der im Bundesstaat North Carolina ein Epigenetik-Labor leitet,
formuliert das in einer sehenswerten TV-Dokumentation (zu finden im Internet
unter der Adresse http://bit.ly/cZx2OO, allerdings nur in englischer Sprache)
so: „Das bringt Verantwortung mit sich, aber auch Hoffnung. Man ist nicht
notwendiger Weise festgelegt, man kann die Dinge verändern.“
Echte
Hoffnung, falsche Versprechen
Und was ist nun
mit dem eineiigen Zwilling, der im Gegensatz zu seinem Bruder (oder ihrer Schwester)
an Krebs erkrankt ist? Die Vermutung hat konkrete Formen angenommen: Trotz
nahezu identischer Gene wird das „Epigenom“ (also inklusive aller Gen-Schalter)
im Lauf der Jahre immer unterschiedlicher. Ein Unterschied, der letztlich die
Entstehung eines Tumors begünstigen kann. Übrigens: Die ersten epigenetisch
wirkenden Medikamente, die manche Gen-Schalter betätigen können, sind bereits
erfolgreich im Einsatz. Hoffnung gibt es aber auch auf anderem Gebiet: Sobald die Wissenschaft besser versteht, wie genau
epigenetische Effekte auf Spermien und Eizellen wirken, könnte das neue
Hoffnung für unfreiwillig kinderlose Paare bedeuten. Faktum ist: Trotz
aller atemberaubender Perspektiven steht die Forschung noch ziemlich am Anfang.
Rückschlüsse aus auch noch so viel versprechenden Tierversuchen sind wie immer
erst einmal mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem: Es gibt für so manches
Krankheitsbild mittelfristig völlig neue Behandlungs-Perspektiven. An anderer
Front ist jedoch Vorsicht geboten: Jeder, der für die Seriosität diffuser
esoterischer Methoden, fragwürdiger Mittelchen oder sonstigen Schabernacks
naturgemäß keine stichhaltigen Beweise vorlegen kann, wird versucht sein, deren
Wirksamkeit mit nicht näher genannten Epigenetik-Effekten zu argumentieren.
Daher: Ein Schuss Skepsis kann sicher nicht schaden.
Hüter des
Gen-Schatzes
Zum Abschluss
noch ein bildhafter Vergleich: Um mit einem Auto von A nach B zu gelangen,
steht uns ein fixes Straßennetz – unsere Gene – zur Verfügung. Es ist fix
vorgegeben und ändert – einmal fertiggestellt – seine prinzipielle
Streckenführung auch über große Zeiträume nicht. Zudem bekommen wir es auf der
Autofahrt unseres Lebens mit äußeren Umwelt-Einflüssen – Glatteis, Seitenwind,
aber auch anderen Verkehrsteilnehmern – zu tun. Gleichzeitig sagt aber ein
vorgegebenes Straßennetz noch nichts darüber aus, welche genaue Route und
welche Spur das Auto unseres Lebens kurzfristig einschlägt – das wäre dann der
Einfluss der Epigenetik. Vor allem aber: Offensichtlich können wir in viel
höherem Ausmaß selbst ins Lenkrad greifen und unsere Reise mitbestimmen, als
bisher angenommen. Das bedeutet aber auch: Wer ungebremst in ein Schlagloch
hineinfährt, ohne aktiv auszuweichen, wird ordentlich durchgebeutelt. Und die
(zukünftigen) Kinder und Enkelkinder am Rücksitz leider ebenfalls. Oder um es
mit den Worten des britischen Genetikers Marcus Pembrey zu sagen: „Wir sind
auch Behüter unserer Gene. Wir passen auf sie auf, auch für unsere Kinder und
Kindeskinder."