Die Corona-Krise führt uns schmerzlich vor Augen, wie eine Welt ohne Schutzimpfungen aussehen würde. Ein guter Zeitpunkt, um aus der Geschichte zu lernen, eine heimliche Heldin vor den Vorhang zu bitten und alte Impf-Vorurteile zu hinterfragen. Und auch für die Antwort auf eine ungewöhnliche Frage: Herde oder Horde?
von Andreas Aichinger
Ein Mensch betritt einen kleinen Park, in dem sich drei gefährliche Tiere befinden. Ein mächtiger Löwe, ein hungriger Tiger – und ein deutlich kleinerer Gepard. Die beiden großen Raubkatzen sind allerdings angekettet, nur der flinke Gepard kann sich frei bewegen. Frage: Welches der drei Tiere ist die größte Gefahr für den Menschen? Richtig getippt: Es ist natürlich der an sich weniger bedrohliche Gepard. Des Rätsels Lösung: Während Löwe und Tiger für große historische Krankheits-Geißeln der Menschheit wie Pocken und Co. stehen, so symbolisiert der schnelle Savannen-Jäger in diesem Gedankenexperiment natürlich jene Krankheit, von der derzeit die ganze Welt spricht: die Coronavirus-Erkrankung COVID-19. Die Botschaft dieses bildlichen Vergleiches liegt auf der Hand: Nicht die eigentliche Gefährlichkeit des „Raubtiers“ entscheidet heute darüber, wie sehr es dem Menschen schaden kann. Sondern die Verfügbarkeit einer geeigneten Kette, die seine Bewegungsfreiheit einschränkt.
Verzweifelt gesucht: Corona-Impfstoff Derzeit wird in aller Welt fieberhaft nach einer Schutzimpfung gesucht, die auch das gefürchtete Coronavirus „Sars-CoV-2“ an die Kette legen kann. Das wird zwar noch eine Weile dauern, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am Ende gelingen. Immerhin sind viele der besten Forscherinnen und Forscher bereits seit vielen Wochen an der Arbeit. Mit Stand Mitte April befinden sich laut Weltgesundheitsorganisation WHO sage und schreibe 67 Impfstoff-Kandidaten in der vor-klinischen Pipeline, drei weitere sogar schon in der klinischen Erprobung. Einer dieser drei Impfstoffe stammt vom US-amerikanischen Biotechnologie-Unternehmen Moderna und wird bereits seit Mitte März an 45 gesunden Erwachsenen getestet. Die Wissenschaftler verfolgen dabei einen sehr spannenden Ansatz, der die bei neuen Impfstoffen übliche Entwicklungszeit von zwölf bis 18 Monaten deutlich verkürzen könnte. Hintergrund: Übliche Impfstoffe verabreichen in der Regel tote oder abgeschwächte Viren, oder aber aus kleinen Virus-Stückchen bestehende Antigene. Die neuen „Bauplan-Impfstoffe“ hingegen setzen auf winzige Ketten von Erbgut-Molekülen, die letztlich die nötigen Proteine selbst hervorbringen. Ihr Vorteil liegt unter anderem darin, dass sich selbst große Impfstoff-Mengen rasch herstellen ließen, ohne Viren anzüchten zu müssen. Die Antwort auf die spannendste Frage ist aber noch offen: Wird die auf diese Weise angestoßene Immunreaktion stark genug sein?
Pocken-Erfolgsgeschichte als Vorbild Die Versorgung mit sauberem Trinkwasser ist die Nummer eins auf der Liste jener Maßnahmen, die die Gesundheit der Weltbevölkerung in der Vergangenheit am positivsten beeinflusst haben. Doch schon auf dem zweiten Platz folgen Schutzimpfungen. Laut Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation WHO retten Impfungen alljährlich das Leben von weltweit mehr als drei Millionen Menschen und bewahren viele weitere Millionen Erdenbürger vor Krankheiten. Während laut Schätzungen vor allem in ärmeren Teilen der Welt in Zukunft noch weitere 1,4 Millionen Kinder unter fünf Jahren durch Schutzimpfungen vor dem Tod bewahrt werden könnten, ist die Lage hierzulande naturgemäß deutlich besser. So konnte die Kinderlähmung (Polio) in Österreich ganz ausgelöscht werden, Wundstarrkrampf (Tetanus) ist bis auf Einzelfälle kein Thema mehr, und auch vor der früher als „Würgeengel der Kinder“ gefürchteten Diphtherie schützt längst eine Impfung. Das vielleicht beste Beispiel für die Erfolgsgeschichte des Impfens jedoch wurde gleich in ihrem historisch ersten Kapitel mit der Überschrift „Pocken“ geschrieben: Tatsächlich war die Menschheit schon seit biblischer Zeit immer wieder schwer von der lebensbedrohlichen Viren-Erkrankung heimgesucht worden. Erst dem englischen Landarzt Edward Jenner gelang es Ende des 18. Jahrhunderts, eine Schutzimpfung gegen die Pocken zu entwickeln, die auch rasch zu einem durchschlagenden Erfolg wurde. Bereits 1807 führte Bayern eine Pocken-Impfpflicht ein, Österreich folgte jedoch erst mehr als 100 Jahre später. 1966 startete die Weltgesundheitsorganisation WHO schließlich ein weltweites Pocken-Impfprogramm, und 1980 konnte die Welt endlich für völlig pockenfrei erklärt werden. Schätzungen gehen davon aus, dass die Pocken allerdings in den 80 Jahren davor noch einmal mindestens 300 Millionen Menschenleben gefordert haben.
Impfkritiker von Tirol bis Trump Bis zum heutigen Tag gibt es gar nicht wenige Menschen, die Impfungen allen medizinischen Fortschritten zum Trotz mit Vorsicht oder Skepsis begegnen. Und an sich ist es natürlich positiv, sich als mündiger Mensch seine eigenen Gesundheits-Gedanken zu machen. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2013 sind bis zu 40 Prozent der befragten Eltern wenigstens zum Teil als impfskeptisch zu bezeichnen. Gerade ihnen könnten aber durch unaufgeregte Informationen (siehe Info-Box) wohl die meisten Sorgen und Ängste genommen werden. Anders sieht es beim harten Kern der radikalen Impfgegner aus, die aber nur etwa vier Prozent ausmachen. Doch selbst sie stehen in einer langen, wenn auch eher unrühmlichen Tradition. Schon Pockenimpfungs-Pionier Edward Jenner wurde vor mehr als 200 Jahren zur Zielscheibe höhnischer Flugblätter. Tiroler Freiheitskämpfer um Andreas Hofer wiederum fürchteten, dass durch die Pocken-Impfpflicht der bayrischen Besatzer den „Tiroler Seelen bayerisches Denken eingeimpft“ werden könnte. Sogar Friedens-Revolutionär Mahatma Gandhi sah in Impfungen eine „barbarische Praxis“. Und US-Präsident Donald Trump schoss 2014 mit der Weiterverbreitung von waschechten Fake News – wonach es einen Zusammenhang zwischen Autismus und Impfungen gäbe, was aber eindeutig widerlegt ist – einen echten Twitter-Vogel ab.
Mutige Virologin als heimliche Heldin Zurück ins Jahr 2020: Das Vertrauen in die Wissenschaft ist in Zeiten der Krise weiter gewachsen. Und das könnte gerade für das Impfen eine echte Chance bedeuten. Tatsächlich lernt die Welt ja gerade schmerzlich, wie sie ohne Schutzimpfungen aussehen würde. Viele Infektionskrankheiten – und COVID-19 ist darunter wie erwähnt keineswegs die gefährlichste – ließen sich dann ebenfalls nur durch strenge Einschränkungen des Lebens in den Griff bekommen. Doch während viele Angehörige der Gesundheitsberufe während der Corona-Krise zu Recht vor den Vorhang geholt wurden, ist eine der wichtigsten Vorkämpferinnen außerhalb ihrer italienischen Heimat noch kaum bekannt: Die Rede ist von der 54-jährigen Virologin Ilaria Capua. Der heute in den USA tätigen Italienerin war 2006 nämlich die Entschlüsselung eines Vertreters des zu dieser Zeit grassierenden Vogelgrippe-Virus H5N1 gelungen. Die damalige Praxis der WHO, die Daten nur wenigen ausgewählten Labors zur Verfügung zu stellen, konnte und wollte Capua jedoch nicht akzeptieren. Und so machte sie die wertvollen Gen-Codes auf eigene Faust im Internet zugänglich. Die Folge waren Verleumdungen, scharfe Kritik durch die WHO, gravierende Karriere-Nachteile und sogar strafrechtliche Ermittlungen. Am Ende aber konnte die mutige Forscherin einen Sieg feiern, die WHO vollzog dank ihres Engagements eine Kehrtwende. Wenn also derzeit Wissenschaftler in aller Welt ohne Verzögerung und mit gleichen Informationen an einem Corona-Impfstoff arbeiten können, dann ist das auch ein Verdienst der heimlichen Virusdaten-Heldin Ilaria Capua.
Umdenken bei der Grippeimpfung? Angesichts von Tausenden Grippekranken in Österreichs Spitälern zu Frühlingsbeginn – was ja die Ängste vor einer Überlastung des Gesundheitssystems zusätzlich verstärkt hat – kam immer wieder auch eine naheliegende Frage auf: Was ist eigentlich mit der Influenza? Tatsache ist: Herr und Frau Österreicher verweigern diese Impfung im großen Stil. Mit einer Durchimpfungsrate von weniger als zehn Prozent gehört Österreich zu den europäischen Schlusslichtern, während beispielsweise rund 75 Prozent der Schotten auf die Influenza-Impfung setzen. Die Ursache ist wohl in erster Linie die systembedingt schwankende Wirksamkeit der Schutzimpfung, die in jeder Grippe-Saison andere Stämme von Influenza-Viren enthält und so unterschiedlich treffsicher ist. Doch selbst wenn der Schutz nicht vollkommen ist, so sind die Verläufe bei geimpften Menschen doch deutlich milder. Und dass auch die echte Grippe keineswegs auf die leichte Schulter genommen werden darf, zeigen die alarmierenden Zahlen: Zurückhaltend geschätzt dürften weltweit mindestens 300.000 Tote auf das Konto der Influenza gehen, in Österreich sind es im Schnitt etwa 1000. Gut möglich, dass die durchlebte Corona-Krise im kommenden Winter auch bei der Grippeimpfung zu einem Umdenken führt. Um das Bild vom Anfang aufzugreifen: Die Influenza ist so etwas wie ein mittelgroßer Panther, für den es eigentlich eine sehr gute „Kette“ als Gefahrenabwehr gäbe. Man müsste sie halt nur verwenden.
Herde oder Horde? Auch wenn sich Infektionskrankheiten nur schwer vergleichen lassen, eine Parallele gibt es dennoch: Mit einer Impfung schützt man nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Und hier kommt der vielzitierte Herden- oder Gemeinschaftsschutz ins Spiel, der vor allem für die Schwächsten der Gesellschaft lebenswichtig ist: Im Fall der hochansteckenden Masern etwa wäre eine Durchimpfungsquote von mindestens 95 Prozent nötig. „Bei Masern halten wir bei der ersten Impfung bei den Zwei- bis Fünfjährigen noch bei einer guten Durchimpfung von fast 95 Prozent“, weiß Ursula Wiedermann-Schmidt, Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der MedUni Wien. „Aber bei der dringend nötigen zweiten Impfung sinkt diese Rate bei den kleinen Kindern auf etwa 81 Prozent.“ Bei den 15- bis 30-Jährigen würden gar nur mehr knapp 70 Prozent über einen kompletten Impfschutz verfügen. Wiedermann-Schmidts Warnung anlässlich des Impftags 2020: „Dadurch wird die hochinfektiöse Erkrankung am Leben gehalten und Kleinkinder, schwächere und ältere Personen sowie Immunsupprimierte gefährdet. Der Herdenschutz funktioniert nicht mehr.“ Bei der im Vergleich weniger ansteckenden Influenza wiederum würde sogar schon eine Immunisierung von 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung ausreichen, um die gewünschte Herdenimmunität zu erreichen und die jährliche Grippewelle auszubremsen. Sprich: Würde sich nur jeder dritte Österreicher im kommenden Herbst zusätzlich gegen Influenza impfen lassen, so könnten mit großer Wahrscheinlichkeit an die 1000 Influenza-Tote vermieden werden. Die Motivation dafür lässt sich somit prägnant auf den Punkt bringen: Während in einer rücksichtlosen „Horde“ jeder nur an sich denkt, ist in einer „Herde“ das Wohl aller wichtig.
Corona in Ketten In absehbarer Zeit wird es also einen COVID-19-Impfstoff geben, der wie schon oft in der Geschichte der Medizin viele Leben retten wird. „Die wirkliche Entlastung dieser Situation kommt durch einen Impfstoff“, lassen auch Experten wie der in den letzten Wochen gerne zitierte Virologe Christian Drosten keinen Zweifel. Dennoch wird wohl auch das Wort „Herdenschutz“ ein fixer Bestandteil unseres Wortschatzes bleiben. Zu eindringlich hat die Corona-Krise gezeigt, wie entscheidend vor allem der Schutz alter und mit Vorerkrankungen belasteter Menschen ist. Mehr noch: Vielleicht erstmals lässt sich jetzt auch emotional nachvollziehen, was die erfolgreichen Impfungen der Vergangenheit wirklich für die Menschheit geleistet haben. Seit Corona wissen wir, wie eine Welt ohne moderne Impfstoffe aussehen würde – und es ist kein schöner Anblick. Die gute Nachricht: Gerade in dieser Sekunde arbeiten einige der besten Forscher-Köpfe der Welt fieberhaft an dem heiß begehrten Impfstoff, der uns die Normalität zurückgeben wird, nach der wir uns so sehnen. Und der Tag, an dem wir auch das Corona-Raubtier endlich an die Impf-Kette legen können, rückt langsam näher.
Erschienen im Magazin Lust aufs LEBEN, Ausgabe Mai 2020
Häufige Fragen rund ums Impfen (nicht COVID-19-spezifisch)
Wird das Immunsystem überfordert? Eltern fürchten manchmal, dass die vielen im Kleinkindalter empfohlenen Impfungen und vor allem die 6-fach-Impfung das Immunsystem ihrer Kleinen überlasten könnten. Ausschlaggebend ist aber nicht die Anzahl der Krankheiten, gegen die gleichzeitig geimpft wird, sondern nur die Anzahl der im Impfstoff enthaltenen Antigene. Das sind jene fremden Eiweiße, gegen die das Immunsystem Antikörper bilden soll. Und diese Zahl ist heute sehr gering. Früher enthielt beispielsweise allein die Keuchhusten-Schutzimpfung mehrere Tausend Antigene, bei der modernen 6-fach-Impfung sind es hingegen gerade einmal an die 25.
Fördern Impfungen Allergien? Allergien häufen sich tatsächlich. Das hat aber vor allem mit schlechter Ernährung, Umwelteinflüssen und übertriebener Hygiene zu tun. Ein weiteres Gegenargument kommt aus der früheren DDR, wo es eine gesetzliche Impfpflicht gab und fast alle Kinder geimpft wurden. Dennoch wurden damals kaum Allergien beobachtet, was ebenfalls gegen einen Zusammenhang spricht.
Ist im Impfstoff wirklich Aluminium? Wahr ist: Einige Impfstoffe enthalten Aluminiumhydroxid, um die Immunantwort zu verstärken. Dabei müssen allerdings strenge Grenzwerte eingehalten werden. Zudem ist die Aufnahme über Impfstoffe viel geringer als jene über Nahrung, Wasser und manche Körperpflege-Produkte. Das Paul-Ehrlich-Institut (deutsches Fachinstitut für Impfstoffe) kommt zu dem Schluss: „Es sind keine wissenschaftlichen Analysen bekannt, die eine Gefährdung von Kindern oder Erwachsenen durch Impfungen mit aluminiumhaltigen Adjuvanzien zeigen.“
Was ist mit Impfschäden? Die Anzahl der anerkannten Impfschäden nimmt in Österreich laufend ab, das gilt dank neuer Impfstoffe auch für echte Impfnebenwirkungen ohne dauerhaften Schaden. Einschlägige Berichte betreffen meist sehr alte Impfstoffe. Prinzipiell sind gelegentlich auftretende Impfreaktionen mit vorübergehenden Krankheitssymptomen wie Hautausschlag oder Fieber zwar unangenehm, der Nutzen einer Schutzimpfung überwiegt aber alle möglichen Risiken bei weitem.
Was ist das Impf-Dilemma? Wenn dank einer erfolgreichen Schutzimpfung immer weniger Menschen von einer bestimmten Krankheit betroffen sind (und außerdem nur mehr alte Menschen ihre Auswirkungen am eigenen Leib erlebt haben), so scheint diese Krankheit kein Problem mehr darzustellen. Risikobewusstsein und Impfbereitschaft sinken, obwohl die Krankheit nach wie vor da ist.